Die vergessenen Handwerkskünste Sardiniens: Traditionen, die vom Aussterben bedroht sind
Die vergessenen Handwerkskünste Sardiniens: Traditionen, die vom Aussterben bedroht sind
Ein tiefer Einblick in alte Handwerkstechniken wie Teppichweberei, Korbflechten oder Schmiedekunst
Wer Sardinien besucht, nimmt zunächst das Offensichtliche wahr: die rauen Küsten, die sanften Hügel, die herbe Schönheit des Macchia-Gestrüpps und das türkisfarbene Meer, das sich in den Buchten sammelt wie flüssiger Himmel. Doch hinter dieser landschaftlichen Pracht verbirgt sich ein kultureller Schatz, der weniger sichtbar, dafür umso wertvoller ist – ein Schatz, der zu verschwinden droht: die traditionellen Handwerkskünste der Insel.
Ein Kulturerbe in Gefahr
Inmitten von Urbanisierung, Tourismus und Globalisierung drohen jahrhundertealte Techniken, die über Generationen hinweg mündlich überliefert wurden, für immer zu verschwinden. Ob es sich um das feine Weben sardischer Teppiche, das kunstvolle Flechten von Körben oder die archaische Schmiedekunst handelt – viele dieser Fertigkeiten leben heute nur noch in kleinen Werkstätten, häufig von älteren Frauen oder Männern gepflegt, deren Kinder längst andere Wege eingeschlagen haben.
„Unsere Kunst stirbt langsam“, sagt Maria Pinna, eine 78-jährige Teppichweberin aus Samugheo, dem inoffiziellen Zentrum der sardischen Webkunst. „Meine Enkelin lebt in Mailand und arbeitet in der Modeindustrie. Sie liebt meine Teppiche, aber sie will sie nicht mehr selbst machen.“
Die Teppichweberei: Kunstvolle Geduld und symbolische Muster
Die sardische Teppichweberei – Su Tessiu – ist weit mehr als dekoratives Handwerk. Sie ist ein Spiegelbild der Geschichte und Kultur der Insel. In Dörfern wie Samugheo oder Nule stehen in vielen Häusern noch die traditionellen Webstühle, an denen Frauen Stunden, manchmal Wochen verbringen, um Wandbehänge, Tischläufer oder Teppiche zu fertigen. Die Muster – stilisierte Tiere, geometrische Formen, florale Elemente – sind voller Symbolik. Sie erzählen Geschichten von Fruchtbarkeit, Schutz, Gemeinschaft und der Verbindung zur Natur.
In der Vergangenheit war es Brauch, dass jede Braut zu ihrer Hochzeit einen selbst gewebten Teppich mitbrachte. Es war ein Zeichen ihrer Reife, ihres Könnens und ihrer häuslichen Tugenden. Heute kaufen junge Paare lieber moderne Möbel bei Ikea.
„Wir haben versucht, unsere Designs zu modernisieren“, erzählt Antonella Soru, eine der wenigen jungen Weberinnen, die noch aktiv sind. „Aber gegen die Massenproduktion aus dem Ausland haben wir kaum eine Chance. Unsere Teppiche kosten ein Vielfaches, weil sie handgemacht sind. Und die Leute haben verlernt, Geduld und Qualität zu schätzen.“
Korbflechten: Ein Geflecht aus Erinnerung und Funktion
Ähnlich steht es um das traditionelle Korbflechten. In Regionen wie der Barbagia oder dem Campidano wurden über Jahrhunderte Körbe für den Alltagsgebrauch hergestellt – zum Aufbewahren von Brot, zum Sammeln von Oliven oder als Geschenk zur Geburt eines Kindes. Die Materialien kamen direkt aus der Natur: Zwergpalmenblätter, Schilfrohr, Weide oder Myrtenzweige.
Doch auch diese Kunst ist vom Aussterben bedroht. „Niemand interessiert sich mehr dafür, wie ein Korb geflochten wird“, sagt Francesco Carta, ein 84-jähriger Korbflechter aus Dorgali. „Sie kaufen Plastikbehälter im Supermarkt, ohne darüber nachzudenken, was dabei verloren geht.“
Dabei steckt in jedem handgeflochtenen Korb nicht nur Funktionalität, sondern auch eine besondere Ästhetik. Die Formen und Größen sind vielfältig, die Muster regional unterschiedlich. Und jede Familie hatte einst ihre eigene Technik, ihre eigene „Handschrift“.
Schmiedekunst: Glühendes Eisen, geschmiedete Mythen
In abgelegenen Bergdörfern Sardiniens lebt eine weitere fast vergessene Kunst: die Schmiedekunst. Während der Schmied in vielen Kulturen eine zentrale Rolle spielte, genoss er auf Sardinien fast mystischen Status. Man sagte, er könne mit dem Feuer sprechen, Dämonen bändigen und Waffen segnen. In der Tat war der Schmied oft auch Heiler und Geschichtenerzähler.
Die alten Werkstätten sind heute meist verlassen. Rostige Hämmer hängen an den Wänden, Ambosse sind von Staub bedeckt. Nur wenige Männer wie Salvatore Murgia in Orgosolo halten die Tradition noch aufrecht. Er fertigt Eisenarbeiten – Gitter, Werkzeuge, kunstvolle Dekorelemente – ganz im Stil seiner Vorfahren.
„Mein Großvater hat mir gezeigt, wie man Eisen zum Singen bringt“, sagt Murgia. „Er sagte: Wenn du das Metall nicht hörst, wirst du es nie beherrschen.“
Doch auch er weiß: Wenn kein Interesse aus der jüngeren Generation kommt, wird mit ihm eine ganze Welt verschwinden.
Ursachen des Verfalls: Mehr als nur der Zahn der Zeit
Warum drohen diese Handwerkskünste zu verschwinden? Es ist ein komplexes Zusammenspiel ökonomischer, sozialer und kultureller Faktoren.
Zunächst der wirtschaftliche Aspekt: Handwerk ist zeitintensiv und erfordert Geschick. Der Markt für handgefertigte Produkte ist klein, die Gewinnspanne gering. Gleichzeitig sind junge Menschen heute mobiler und orientieren sich stärker an urbanen Berufsbildern. Die traditionelle Wissensweitergabe innerhalb der Familie – früher selbstverständlich – ist unterbrochen.
Hinzu kommt der kulturelle Wandel. Die Globalisierung bringt nicht nur Produkte, sondern auch Lebensstile und Wertvorstellungen mit sich. Lokale Identität verliert an Bedeutung, während universelle Marken und Trends dominieren. Was früher als „Kunst des Alltags“ galt, wird heute oft als veraltet, ländlich, sogar rückständig empfunden.
Und schließlich fehlt es an politischem und institutionellem Rückhalt. Zwar gibt es einige Programme zur Förderung des traditionellen Handwerks, doch oft scheitern sie an Bürokratie, fehlender Finanzierung oder mangelndem strategischem Fokus.
Hoffnungsschimmer: Rückbesinnung und neue Impulse
Doch es gibt auch Gegenbewegungen. Einige junge Designer und Künstler entdecken das alte Handwerk neu – nicht aus Nostalgie, sondern aus Überzeugung. Sie sehen darin eine nachhaltige, sinnstiftende Alternative zur Schnelllebigkeit der Konsumwelt.
In Cagliari hat die Initiative Mani d’Arte eine Plattform geschaffen, auf der alte Handwerker und junge Kreative zusammenarbeiten. Es entstehen Teppiche mit modernen Farben, Körbe in innovativen Formen und Schmuck aus geschmiedetem Eisen, der auf internationalen Messen gezeigt wird.
Auch der Tourismus könnte eine Rolle spielen. „Kultureller Tourismus ist ein Wachstumsfeld“, sagt Lucia Contu vom sardischen Tourismusverband. „Viele Reisende suchen heute Authentizität. Sie wollen nicht nur am Strand liegen, sondern echte Menschen, echte Geschichten erleben.“
Manche Dörfer setzen deshalb gezielt auf Handwerkstourismus. In Aggius etwa können Besucher selbst einen Teppichfaden spinnen oder sich im Korbflechten versuchen. In den Sommermonaten werden Workshops, Märkte und Ausstellungen organisiert. Das Interesse – so Contu – sei überraschend hoch.
Was verloren geht – und was gerettet werden kann
Der drohende Verlust des sardischen Handwerks ist mehr als eine ästhetische Frage. Es geht um Identität, um das Gedächtnis einer Gesellschaft, um ein immaterielles Erbe, das über Jahrhunderte gewachsen ist.
Wenn eine Handwerkstechnik verschwindet, verschwindet nicht nur ein Produkt – es verschwindet eine ganze Welt: die Geschichten, die Werkzeuge, die Rituale, der Klang des Webstuhls, der Geruch des heißen Eisens, das rhythmische Rauschen des geflochtenen Schilfs.
Noch ist es nicht zu spät. Doch die Zeit drängt. Die alten Meister sind alt, ihre Hände zittern bereits. Wenn sie gehen, nehmen sie ihr Wissen mit – sofern niemand da ist, der bereit ist, es weiterzutragen.
Vielleicht ist es an der Zeit, umzudenken. Vielleicht braucht es nicht nur staatliche Förderprogramme, sondern eine kulturelle Bewegung, die das Handwerk nicht als „altes Handwerk“ sieht, sondern als lebendige Kunstform, als Ausdruck von Würde, Können und Verbundenheit.
Sardinien wäre nicht Sardinien ohne seine Landschaft – aber auch nicht ohne seine Kunsthandwerker.
Labels: Sardinien, Handwerk, Teppichweberei, Korbflechten, Schmiedekunst, immaterielles Kulturerbe, Sardisches Kunsthandwerk, Traditionen, Kultur, Tourismus, Nachhaltigkeit, Italien, regionale Identität, FAZ-Stil
Meta-Beschreibung:
Entdecken Sie die bedrohten Handwerkskünste Sardiniens – von Teppichweberei über Korbflechten bis zur Schmiedekunst. Ein tiefgründiger Blick auf Traditionen, die im Schatten der Moderne verschwinden.